Für eine neue soziale und ökologische grüne Politik

Berliner Grüne Linke: Wir unterstützen die Initiative „Münsteraner Appell“ für eine deutliche Neuaufstellung von Bündnis90/Die Grünen als moderner linker Partei.

1. Nach der verlorenen Landtagswahl von Nordrhein-Westfalen und der Ankündigung von Neuwahlen durch Bundeskanzler Schröder stehen Bündnis 90/Die Grünen vor der Aufgabe, eine kritische Bilanz der rot-grünen Regierungsarbeit zu ziehen und ihren Weg in die Zukunft festzulegen. In den letzten sieben Jahren haben wir Grüne das Land gesellschaftspolitisch und ökologisch erneuert. Mit einem modernen Staatsbürgerschaftsrecht, der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft und verbesserten Kinderbetreuungsangeboten, die Eltern die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern, haben wir Deutschland gesellschaftspolitisch ins 21. Jahrhundert geführt. Und mit dem Einstieg in den Atomausstieg, mit Energiewende und Klimaschutz haben wir die Weichen für eine ökologisch nachhaltige Politik gestellt. VerbraucherInnenschutz und neue Landwirtschaft sind Themen, die nur dank uns Grünen oben auf der politischen Tagesordnung stehen.

Die Schaffung neuer Arbeitsplätze durch ökologische Steuer- und Finanzreformen und durch den ökologischen Umbau vor allem in den Bereichen Energie, Verkehr und Landwirtschaft wollen wir beschleunigt fortsetzen.

2. Zu einer ehrlichen Analyse gehört aber auch, wahrzunehmen, dass in den letzten Jahren Fehler gemacht wurden. Das gilt insbesondere für die Wirtschafts-, Haushalts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik. Die Krisen und Probleme des ökonomischen Überganges in eine Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft, die sich vor allem in Massenarbeitslosigkeit und Haushaltsdefiziten zeigen, hat Rot-Grün nicht gemeistert. Die zentrale Ausrichtung auf Entlastung der Unternehmen und Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit verhinderte, ausreichende Ressourcen für Zukunftsaufgaben bereitzustellen. Statt sich der Aufgabe zu stellen, ein globalisierungsfestes Steuersystem zu schaffen, wurde versucht, im Steuersenkungswettlauf ganz vorne zu liegen. Die Versprechungen, mit der Unternehmensteuerreform 2001 und der Agenda 2010 die wirtschaftliche Aktivität zu erhöhen und damit Arbeitsplätze zu schaffen, konnten sich nicht erfüllen. Die unzureichende Belastung der hohen Einkommen und Vermögen hat die Schere zwischen Arm und Reich weiter aufgehen lassen und die staatlichen Mittel ausgedünnt. Der notwendige Umbau der sozialen Sicherungssysteme wurde so unter Sparvorgaben vorgenommen und zu Ausgabensenkungen benutzt. Darum standen bei den Reformen neben den erwünschten vor allem die unerwünschten Wirkungen im Vordergrund. Tatsächlich haben Maßnahmen gegen die Armutsrisiken von speziell betroffenen Gruppen, z.B. alleinstehende Frauen mit Kindern, messbar gegriffen und zu Minderungen geführt. Dies führte dazu, dass Deutschland heute, nach sieben Jahren Rot-Grün, nach OECD-Studien und dem Armutsbericht 2005 nach Schweden und Dänemark das niedrigste Armutsrisiko aufweist. Dennoch ist aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung die absolute Zahl der Armen gestiegen. Zugleich wurde die Unsicherheit der Mittelschichten insbesondere durch die Ausgestaltung von Hartz IV verschärft. Gerade angesichts der hohen Arbeitslosigkeit löst dies bei vielen Menschen berechtigte Existenzängste aus. Diese soziale Verunsicherung untergräbt nicht nur die Zustimmung für Rot-Grün, sondern auch die Bereitschaft der Menschen für soziale und ökologische Reformen insgesamt und leistet zunehmendem Populismus Vorschub.

3. Eine kritische Betrachtung kann auch nicht umhin, über den Zusammenbruch des rot-grünen Projektes hinauszublicken. Wir stellen fest, dass auch andere europäische Regierungen, die einen New-Labour-Kurs gefahren haben, keine ausreichende Zustimmung der Wähler erreichen konnten. Vranitzky in Österreich, Prodi in Italien, Jospin in Frankreich wurden, teilweise überraschend, abgewählt. Auch die Ablehnung des Europäischen  Verfassungsvertrages in den Referenden in Frankreich und den Niederlanden zeigt, dass diese Politiklinie nicht fortsetzungsfähig ist, sondern für eine weitere europäische Integration sogar ein Hindernis bildet. Ein Ausgleich zwischen den beteiligten Staaten reicht nicht aus, wenn der Ausgleich zwischen den Gewinnern und Verlierern der europäischen Integration innerhalb der jeweiligen Staaten vollkommen unzureichend ist. Was die Unternehmen an Märkten gewinnen, verlieren die Arbeitnehmer an Stellen. Hinzu kommt, dass die Aussicht auf Zugehörigkeit zur EU als politischer Gestaltungs- und Stabilisierungsfaktor eingesetzt wird. Dies ist politisch keineswegs falsch, die dadurch entstehenden Belastungen dürfen aber nicht einfach auf die materiell Schwachen abgewälzt werden, sondern verlangen eine neue Verteilungspolitik.

4. Vor diesem Hintergrund kann das „Kurshalten!“ der Kanzler-SPD keine Antwort sein. Auch die neoliberalen Rezepte von CDU und FDP – mehr Sozialkürzungen und niedrigere Löhne und Einkommen – würden die genannten Probleme allesamt nur verschärfen. Deshalb kann es für uns Grüne keine Politik des „Weiter so!“ geben. Statt dessen fordern wir einen klaren Kurswechsel, der Fehler korrigiert und wieder verstärkt auf zukunftsfähige grüne Reformkonzepte setzt.

Bestandteile dieses Kurswechsels müssen sein:

• Eine armutsfeste soziale Grundsicherung anstelle ALG II und Sozialhilfe
• Sofortmaßnahmen bei Hartz als erste Schritte in diese Richtung sollten sein:
– Erhöhung der Bezugssätze
– Änderung der Zumutbarkeitsregelung und Erhöhung der Zuverdienstmöglichkeiten
– Individualisierung der Bezugsberechtigung, Aufhebung der Bedarfsgemeinschaften und die Anrechnung der Partnereinkommen unter sozialen Kriterien
– Deutliche Verbesserung bei der Alterssicherung
– eine differenzierte Lösung für Langzeitarbeitslose unter Berücksichtigung der Dauer der Beitragszahlung
• Eine solidarische Bürgerversicherung, die bei Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze BeamtInnen, PolitikerInnen und Selbstständige ebenso in das solidarische Versicherungssystem einbezieht wie Einkünfte, die nicht aus Erwerbsarbeit stammen.
• Eine umfassende Initiative für mehr Beschäftigung und mehr Binnennachfrage durch eine abgestimmte Politik für Gesundheit, Bildung, Wissenschaft, Forschung, Kultur und ökologischen Dienstleistungen mit
– einem Anschubprogramm in zweistelliger Milliardenhöhe
– mit einer Verzahnung zu den Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik
– mit neuen Finanzierungsinstrumenten, die in diesen Bereichen greifen.
• Eine gerechte höhere Besteuerung von Vermögen, Erbschaften und Kapitalerträgen und der Verzicht auf weitere Steuergeschenke im Rahmen der Körperschaftssteuerreform. Für die Finanzierung der genannten Maßnahmen müssen auch steuerliche Vergünstigungen wie das Ehegattensplitting und andere Subventionen endlich abgeschafft werden.
• Eine Schul- und Bildungspolitik, die Chancengerechtigkeit durch individuelle Förderung für alle als unserer wichtigsten Zukunftsressource schafft. Der Zugang zur Hochschule darf weder durch unzureichende Studienplätzen
noch durch finanzielle Barrieren eingeschränkt werden.
• Ein gesetzlicher, armutsfester Mindestlohn.
• Eine Arbeitsmarktpolitik, die der wachsenden Produktivität Rechnung trägt durch gerechte Umverteilung von Arbeit, Arbeitszeitverkürzung, Abbau von Überstunden und eine Neubestimmung des Verhältnisses von Erwerbsarbeit zu anderen Formen gesellschaftlich wertvoller Arbeit.
• Eine Initiative für einen europäi-schen Sozialpakt, der dem derzeitigen Wettbewerb um die niedrigsten Steuern, Löhne und Sozialstandards Grenzen setzt.

Auf dieser Grundlage werden wir Grüne im Bundestagswahlkampf selbstbewusst für eine ökologische und gesellschaftliche Erneuerung der Politik und für eine andere Arbeits- und Sozialpolitik werben. Dabei werden wir uns deutlich abgrenzen von einer SPD, die sich die Misserfolge der Wirtschafts- und Finanzpolitik und der Hartz-Reformen nicht einge- stehen will, und an deren Strukturkonservatismus viele grüne Reformanliegen gescheitert sind.

Wir halten zukunftsorientierte linke Politik in Deutschland für mehrheitsfähig. Wir wollen das linke gesellschaftliche Spektrum auch nicht einer Wahlalternative überlassen, die nur auf aktuellen Protest setzt und keine
tragfähigen Konzepte für den notwendigen gesellschaftlichen Umbau vorweist.

Zugleich wenden wir uns offensiv gegen die Politik von CDU und FDP, die den umwelt- und gesellschaftspolitischen Rollback in die 70er Jahre propagiert und in Richtung radikale Marktwirtschaft ohne soziale Attribute steuert.  Eine derart rückwärts gewandte Politik wird Deutschland um Jahre zurückwerfen.

Im bevorstehenden Bundestagswahlkampf werden wir auf dieser Grundlage für eigenständige zukunftsfähige grüne Positionen kämpfen.
Wir brauchen eine starke soziale und ökologische Kraft. Dafür treten wir ein!

Berlin, den 11.6.2005
Berliner Linkentreffen (Quelle: Stachel – Xhain)

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