Demokratie und Beteiligung

Tagung 2015: Workshop Demokratie und Beteiligung (Diskussionspapier als pdf)

Im Vergleich zu anderen Städten ist die Hauptstadt Berlin nach wie vor beteiligungspolitisches Entwicklungsland: Wir Grüne wollen Berlin aber zur Hauptstadt der Beteiligung machen. Ganz in der Tradition der Bürgerrechtsbewegungen wollen wir Mitsprache und Mitgestaltung durch die Zivilgesellschaft ermöglichen. Dazu brauchen wir eine neue Planungs- und Beteiligungskultur, die von Politik, Verwaltung und Bürger_innen gemeinsam zu entwickeln ist. Es geht dabei um nichts Geringeres als darum, das Verhältnis von Bürgerinnen und Bürgern und Staat neu zu definieren. Ein erster Schritt ist das politische Bekenntnis zu mehr Beteiligung. Dafür schlagen wir einen Stadtvertrag Beteiligung vor, der auch eine umfassende Beteiligungskultur entwickelt und sicherstellt. Mit: Antje Kapek (MdA, Fraktionsvorsitzende) und Dirk Behrendt (MdA)

Wie kommen wir zu einem anderen, offenen Politikstil?
Ansatz: Politik von unten; die Dinge gemeinsam mit der Stadtgesellschaft und Interessengruppen entwickeln – oder auch mal nicht entwickeln.

Es ist zu unterscheiden zwischen
a) dem gesamten Rechtsbereich als Instrumente der direkten Demokratie (Bürger-/Volksbegehren, Bürger-/Volksentscheid etc.)
b) kooperativen Beteiligungsformaten (die Bertelsmannstiftung listet 200 verschiedene dialogische Beteiligungsverfahren auf)

Warum ist es uns bisher nicht gelungen, gute Beteiligungspolitik in Berlin zu verankern? 80 Prozent der Deutschen wünschen sich mehr Mitsprachemöglichkeiten. Wie überwindet man die Lücke zwischen den kooperativen Beteiligungsprozessen und letztendlich der Entscheidung in BVV und Abgeordnetenhaus? Wie lässt sich das so verbindlich gestalten, dass sich auch alle Parteien und Fraktionen daran gebunden fühlen?

Es muss ein Leitbild entwickelt werden, an das sich alle gebunden fühlen. Ziel wäre am Ende auch ein Gesetz.
1. Schritt: Vorhabenliste (d.i. Rechtzeitigkeit der Information; was sind die anstehenden Vorhaben)
2. Schritt: Verständlichkeit (d.i. gute Aufbereitung der Informationen)
3. Schritt: gute Bedingungen (d.i. ausreichende, gut geschulte Personalausstattung)

Beteiligung ist das Aushandeln verschiedener, durchaus auch widerstreitender Interessen. Beteiligung ist n i c h t das Durchsetzen eines partikularen Interesses. Die Grenzen der Beteiligung müssen deshalb klar definiert werden. Beteiligung ist für Reformimpulse nur bedingt das geeignete Mittel (vgl. Hamburg Bildungsreform). Beteiligung ist aber auch eine Chance im Sinne von emanzipatorischer Kraft. In Berlin wollen wir die Beteiligung auf alle Berliner*innen ausdehnen, auch auf die ohne deutschen Pass.

Grüne Politik ist in den letzten Jahren immer parlamentszentrierter geworden. Anfangs waren wir eine APO, später hatten wir ein Standbein „Parlamentsarbeit“ und ein Spielbein „Zivilgesellschaft“. Heute müssen wir wieder den Anschluss an direktdemokratische Prozesse finden.

Debatte:

Wir müssen die Beteiligung von Migrant*innen stärker fördern. Wie erreichen wir das? Etwa 500.000 Berliner*innen ohne deutschen Pass sind von zahlreichen Beteiligungsmöglichkeiten ausgeschlossen. Für mehr Beteiligung wäre auch ein Mehr an politischer Bildung wünschenswert. Es ist zu überlegen, wie sich Parteien generell mehr öffnen können, transparenter und demokratischer werden. Um die Bevölkerung mit Politik und Verwaltung in Dialog zu bringen, reichen die Instrumente der direkten Demokratie nicht aus. Aktuell ist direkte Demokratie eher eine Form des Bürgerprotests, also ein Indikator dafür, wo Beteiligung gescheitert ist. Es muss klar definiert werden, was die Möglichkeiten und die Grenzen von Beteiligung sind. Beteiligung ist kein Wünsch-dir-Was. Die Durchführung von Beteiligungsverfahren muss durch unparteiische Dritte geschehen.

Gegenposition: Als linke Grüne müssen wir die Entscheidungsfreiheit eines jeden fördern. Beteiligungsgrenzen zu ziehen ist illegitim. Es gibt schutzbedürftige Minderheiten. Für diese ist das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht ausreichend [der Workshop zeigt sich von dieser These nicht überzeugt].

Wann beginnt Beteiligung, wo setzt man sie an? Erst wenn das konkrete Bauprojekt ansteht und der Zug für Viele schon abgefahren ist? Oder bereits in der ersten Planungsphase? Wie werden Informationen über ein Vorhaben rechtzeitig verbreitet? Wie erreicht man breite Bevölkerungsschichten mit den richtigen Informationen? Von interessierter Seite wird nicht selten Desinformation betrieben. Wie gehen wir als Politik damit um, wenn wir gegen die Auffassung der Leute Entscheidungen treffen? Wie damit umgehen, wenn die Exekutive mit Bürgerinitiativen Dinge direkt aushandelt und das Parlament umgeht? In welchem Verhältnis stehen direkte Beteiligung und repräsentative Demokratie?

Direkte Demokratie wirkt i.d.R. a) als konservatives Instrument im Sinne von Erhalten (nichts soll sich verändern) und b) um „denen da oben“ mal eins mitzugeben (Tendenz: Die Politiker können das alle nicht, deshalb müssen wir jetzt mal ran). Wir brauchen weniger Staatssekretäre und mehr Geld in den Fachverwaltungen, um dort das Personal fitter für Beteiligungsverfahren zu machen. Beteiligung ist nicht direkte Demokratie. Die Piraten sind das Sprachrohr der Demokratieanalphabeten.

Wendet sich Beteiligung nicht oft auch gegen die repräsentative Demokratie? Folgt man dem Argument der SPD, sind die Parlamentswahlen bereits der Akt der Beteiligung. Beteiligung ist kein Gewinnerthema. Beteiligung ist ein Betroffenenthema. Beteiligung erfordert sehr frühzeitige Mobilisierung. Es gibt einen Unterschied zwischen Beteiligung (Bevölkerung) und Entscheidung (Parlament), das muss immer wieder sehr deutlich gemacht werden. Wertschätzung und gegenseitigem Lernen muss Raum gegeben werden. Die Beteiligungsmöglichkeiten müssen auch bei Verwaltungsräten, Rundfunkrat, BVG, Wasserbetrieben etc. erhöht werden. Es gibt genügend komplexe Fragen, die nicht durch einen Volksentscheid entschieden werden sollten.

Zusammenfassung „Beteiligung“:

Woran wollen wir weiterarbeiten? Welche Aussagen/Projekte/Zuspitzungen sollen ins Wahlprogramm?
1) Was ist Beteiligung und was ist ihr rechtlicher und ressourcenmäßiger Rahmen? Was ist aufbaufähig, was sind die Grenzen?
2) Informationsfreiheits- und Transparenzgesetz
3) Beteiligung ist so zu gestalten, dass die Leute sich in ihren Interessen Ernst genommen und mit ihren Gesichtspunkten berücksichtigt fühlen.
4) Es darf nicht zu viel versprochen werden. Beteiligung ist ein Instrument der Variantenbildung. Die Entscheidung liegt bei der Volksvertretung.

Zusammenfassung „direkte Demokratie“:

1) Prioritär und das allerwichtigste im Wahlprogramm ist unser Bekenntnis zu Beteiligung und direkter Demokratie.
2) Wir müssen ein Leitbild erstellen und ggf. eine Gesetzesinitiative aufnehmen.
3) Direkte Demokratie muss von unten entwickelt werden, nicht von oben (wie jetzt bei Olympia).

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